
Im Rahmen eines internationalen Informationsaustauschs besuchte Mitte September 2025 eine Delegation von 23 estnischen Rinderzüchter:innen Österreich, um sich über Bio-Landwirtschaft, tiergerechte Haltung und moderne Fleischproduktion zu informieren. Wir haben Keidi Tamm, Geschäftsführerin des Estonian Beef Cattle Breeders Association, im Anschluss an die Reise zum Interview getroffen und mit ihr über ihre Eindrücke gesprochen.
Die Reiseroute
Die Studienreise führte die Gäste aus Estland zunächst nach Wien, wo sie an der Universität für Bodenkultur (BOKU) Einblicke in aktuelle Forschung erhielten und zudem einen Ackerbaubetrieb im Weinviertel besichtigten. Anschließend ging es weiter zur BOA-Farm, Österreichs größtem Mutterkuhbetrieb, wo die Angus-Zucht mit mehr als 600 Tieren und das Management von 200 Mutterkühen auf großes Interesse stießen. Im Waldviertel bot Lukas Hochwallner, Geschäftsführer der ARGE „Nahtürlich Bio“, praxisnahe Einblicke in sein nachhaltiges Weidemanagement auf rund 40 Hektar Fläche, verteilt auf zehn unterschiedliche Standorte.
Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch bei Sonnberg Biofleisch, dem größten 100%-Biofleisch-Betrieb Österreichs. Hier erhielt die Gruppe eine ausführliche Führung durch den gesamten Produktionsprozess – von der Warenannahme bis zum Warenausgang. Besonders aufmerksam verfolgten die Teilnehmer:innen die Informationen zu Hygiene, Kostenstrukturen und Schlachtprozessen, da viele von ihnen selbst in der Fleisch- und Wurstproduktion tätig sind. Aber auch das Produktsortiment fand großen Anklang: Neben fachlichem Austausch wurden vor allem Speck und weitere Spezialitäten begeistert verkostet und gekauft. Aber nun geht es zum Interview mit Keidi Tamm, Geschäftsführerin des Estnischen Verbands der Fleischrinderzüchter.
Wertscöpfungskette der RInderhaltung um Fokus
Was war das Hauptziel Ihres Besuchs in Österreich?
Das wichtigste Ziel unseres Besuchs war es, die gesamte Wertschöpfungskette der Rinderhaltung in Österreich kennenzulernen – beginnend bei der Ausbildung in Tierhaltung und Futterproduktion, über Betriebsbesuche und Produzentenorganisationen bis hin zur Fleischverarbeitung. Wir wollten ein vollständiges Bild davon bekommen, wie dieser Sektor in Österreich strukturiert ist und funktioniert.
Warum haben Sie Partner wie Sonnberg Biofleisch und die ARGE (Lukas auf seinem Hof) besucht?
Anfangs hatten wir nur einen Kontakt in Österreich – die BOA Farm – an die wir uns mit unserer Idee gewandt haben. Sie gaben uns die ersten Empfehlungen, darunter Sonnberg Biofleisch. Von dort entwickelte sich alles weiter, und Sonnberg schlug vor, auch die ARGE und den Hof von Lukas zu besuchen. Eine kurze Einführung von Lukas genügte, und es klang nach einer perfekten Ergänzung unserer Reise. Wir sind sehr froh, dass wir zu so großartigen Produzenten geführt wurden, die uns so herzlich empfangen haben, und dass wir nun noch mehr wertvolle Kontakte in Österreich haben.
Besuch in Österreich: eine augenöffnende Erfahrung
Wie haben Sie und Ihre Gruppe das Programm und die Betriebsbesuche erlebt?
Das Programm war sehr gut organisiert und interessant. Für uns war es eine augenöffnende Erfahrung, die gesamte Wertschöpfungskette in Aktion zu sehen. Besonders wertvoll war es, sowohl die Arbeit auf Betriebsebene als auch die Perspektive der verarbeitenden Industrie kennenzulernen.
Konnten Sie Erkenntnisse oder Praktiken mitnehmen, die auch für Ihre eigene Rinderzucht und Landwirtschaft nützlich sein könnten?
Die wichtigste Erkenntnis war, dass weniger manchmal mehr ist. Wir haben gesehen, dass einfache, gut funktionierende Praktiken sehr effektiv sein können und dass es nicht ständig notwendig ist, alles neu zu erfinden oder sich stark auf neue Technologien zu verlassen. Es hat uns daran erinnert, dass gute Landwirtschaft nicht immer bedeutet, die innovativste zu sein – sondern die Grundlagen gut und konsequent umzusetzen.
Welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten haben Sie zwischen der Rinderhaltung in Österreich und Ihrem Heimatland festgestellt?
In beiden Ländern sehen wir eine besorgniserregende Entwicklung: Immer mehr Landwirte geben aufgrund wachsender Bürokratie und regulatorischer Belastungen auf. Dies ist eine gemeinsame Herausforderung, die wir zusammen lösen sollten. Gleichzeitig haben wir auf Betriebsebene viele Ähnlichkeiten festgestellt – insbesondere die Fokussierung auf Weidemanagement und Bodengesundheit.
Der stressarme Umgang mit den Tieren besonders beeindruckend
Wie bewerten Sie persönlich die Rolle von Bio- und weidebasierten Systemen für die Zukunft der Rinderzucht?
Ich bin eine starke Befürworterin der biologischen Landwirtschaft. Ich bin selbst Bioproduzentin. Aber ich glaube auch, dass weidebasiertes Rindfleisch im Allgemeinen – auch wenn es nicht biozertifiziert ist – bereits auf sehr saubere und nachhaltige Weise produziert wird. Es verdient die gleiche Anerkennung und Unterstützung, besonders dann, wenn hohe Tierwohl- und Umweltstandards eingehalten werden. In einem Sektor, der zahlenmäßig schrumpft, müssen wir uns für alle Formen einer verantwortungsvollen und nachhaltigen Rinderzucht gemeinsam stark machen.
Was hat Sie und Ihre Gruppe am meisten beeindruckt?
Besonders beeindruckt hat uns der stressarme Umgang mit den Tieren. Es war klar zu erkennen, dass das Tierwohl im Vordergrund stand, und die ruhige, respektvolle Art, in der die Tiere betreut wurden, hat bei uns allen einen starken Eindruck hinterlassen.
Wie wichtig ist für Sie der Austausch mit internationalen Züchtern?
Der internationale Austausch ist für uns von unschätzbarem Wert. Er eröffnet neue Perspektiven, hilft uns, unsere eigenen Systeme einzuordnen, und stärkt die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Durch diese Begegnungen können wir voneinander lernen – von Erfolgen ebenso wie von Herausforderungen – und gemeinsam an einer nachhaltigeren Zukunft für die Rinderzucht arbeiten. Wir würden uns sehr freuen, unsere neuen österreichischen Kontakte künftig auch in Estland willkommen zu heißen und diesen Austausch persönlich fortzuführen.
Titelbild © ARGE NahtürlichBIO
